Antonia Steger | 12. August 2015
Ist es zynisch, in Zeiten von so vielen Not leidenden Menschen in Griechenland (innerhalb sowie von ausserhalb) über so etwas wie das griechische Raumempfinden zu schwärmen? Ich versuche mir vorzustellen: Wenn ich selbst in einem Land wohnen würde, das mit dem alldrohenden Grexit auf weniger als eine Silbe zusammengeschnurrt wurde, würden mir gute Geschichten misslich fehlen. Geschichten, die meiner Identität etwas anderes geben können als was die Politiker meines Landes mit den Politikern anderer Länder über mein Leben entscheiden.
Ich erzähle darum in dieses Leid hinein eine Geschichte, die aus dem griechischen Alltag kommt. Darüber, wie die griechische Raumwahrnehmung zu einem geheimen Exportschlager bis nach Amerika geworden ist. Leider ohne Patentrechte.
Aber von Anfang an. Eine unvergessliche Sommerzeit auf der Insel Naxos bedeutet: kitschig restaurierte Tempelanlagen neben nicht funktionierenden Toiletten, einsame Buchten von unbeschreiblicher Schönheit, hunderte Betonskelette, über die die griechische Krise alles abwürgend hereingebrochen war. Es bedeutet vor allem, mit dem gemieteten Fiat Panda unterwegs zu sein, ein Roadtrip im kleinen Stil, weil sich ein ÖV-System auf der Insel nicht lohnt.
Als Schweizerin bedeutet der Sommer auf Naxos auch das Gefühl, das Autofahren augenblicklich verlernt zu haben. Warum hupen mich so viele Autofahrer an? Wer weicht zurück, wenn wir uns in den Gassen verkeilt haben? Und wo zum Kucker darf ich eigentlich parkieren? Ich bin Analphabetin in den inoffiziellen Verkehrsregeln.
Doch ich lerne. Das Hupen stellt sich als freundlich gemeinter Gruss im Vorbeifahren heraus. Verkeilte Situationen werden durch Rufe aus dem offenen Fenster und durch zuströmende Schaulustige gelöst. Doch das Parkier-Problem war schwieriger zu begreifen – ich musste zuerst lernen, den Strassenraum wie eine Griechin wahrzunehmen, um meinen Fiat Panda abends abstellen zu können.
Google Street View in Naxos, Griechenland
Google Street View in Küsnacht, Schweiz
Der griechische Raum ist ein gänzlich anderer als der schweizerische. In Zürich bevölkern sauber gepflegte Linien den Asphalt und sie sprechen zu mir, weisen mich in die Schranken, leiten mich, wollen mir mit verdeckter Autorität helfen. Bis hin zu den Verkehrsschildern und der Gestaltung von Trottoir-Kanten sagt mir alles, wo ich was zu tun habe. Für jede Zone gibt es Handlungsgrenzen, unterteilte Möglichkeiten. Ganz besonders wichtig ist die klare Unterscheidung von Zonen, in denen gefahren wird, in denen zu Fuss gegangen und in denen gesessen wird.
Ein solches Raster kennt der griechische Raum (auf Naxos) nicht. Auf dem Trottoir wird nicht nur gegangen, es wird auch gestanden, verkauft, über herausragende Treppen gestolpert. Die Trottoir-Kante ist keine Grenze, sondern ein ungefährer Hinweis darauf, dass hier irgendwo noch Menschen hindurchgehen können müssen. Der Raum in Griechenland ist in höchstem Masse graduell.
Auf Naxos musste ich also aufhören, nach aufgemalten Parkplätzen zu suchen und ich begann, mich nach meinem Augenmass zu richten. Dies half massgeblich mit, dass ich nicht heute noch im Fiat Panda verzweifelte Runden im Hauptstädtchen von Naxos drehe.
Aber – ist es nicht gerade ebendieses Mischmasch, diese gradualisierte Verunsicherung, die wir an Ferien im Süden so faszinierend finden? Die wir – ungeübt und erschöpft – auch meist erleichtert wieder für unseren geordneten Raum zurücklassen? Und deren Wert wir von zu schneller Genervtheit manchmal auch zu schnell übersehen? Mir ging es jedenfalls prächtig im Fiat Panda auf Naxos. Nach einer Gewöhnungsphase hatte ich sogar weniger Angst im Verkehr als auf den Schweizer Strassen. Auf Naxos hast du das Gefühl, hineinzugehören. Es geht dich etwas an, was rund um dein Fahrzeug passiert, gerade weil sich niemand auf grelle Linien verlassen kann. Verkehrsteilnehmer sind sich kein abstraktes Technikum, das bei der kleinsten Unachtsamkeit zusammengestaucht werden muss, wenn es sich nicht an die allgegenwärtige Obrigkeitsnorm hält. Das erste Mal in meinem Leben wurde ich durch die Windschutzscheibe hindurch als fahrenden Menschen behandelt.
Doch jetzt beginnt die Geschichte eigentlich erst.
Vorschriftssignal: Begegnungszone, Bundesamt für Strassen (ASTRA). Gemeinfrei
Dieses Prinzip der Undefiniertheit, der gleichberechtigten Existenz aller Bewegungsformen im selben Raum – das gibt es in immer mehr Städten in Europa und mittlerweile auch in Amerika (1 und 2). Und es wird als Aufwertung von Innenstädten verkauft. Die schweizerische Erfindung heisst „Begegnungszone“, deren Erfolg auch nach Frankreich und Belgien exportiert wurde.
Was passiert hier eigentlich? Ist das eine Aufwertung und Absicherung des Strassenraumes durch – ja, letztendlich durch als neu verkaufte Konzepte, die in anderen Ländern schon immer Tradition sind?
Die Geschichte geht sogar noch weiter.
Etwas Ähnliches passiert nicht nur im Strassenraum, sondern auch beim Wohnraum. In der Altstadt auf Naxos türmen sich Häuschen so verschachtelt auf- und ineinander, dass von aussen kaum einzelne Bauten von ihren Nachbarn unterschieden werden können. Das Dach des Einen wird zum Balkon des Anderen, eine private Eingangstreppe dient als öffentliche Sitzgelegenheit. Nichts als überwältigende Komplexität. Verdichtung in ihrer poetischsten Form.
Eine solche Bauart ist in der Schweiz nicht einmal vorstellbar. Das Trennen von Hauseinheiten kann sogar als Schweizer Hobby bezeichnet werden. Der eigene Garten scheint nicht selten gerade deswegen so gepflegt zu werden, damit niemand auf die Idee kommen könnte, der Freiraum um das Eigenheim sei für Freiwild zugänglich. Je gepflegter die Wiese, je unnatürlicher das Blumenarrangement, desto deutlicher der Appell, dass hier jemand über den leeren Raum herrscht.
Und doch haben gerade in letzter Zeit neue Wohnformen Furore gemacht, welche dieses vermeintliche Grundgesetz in Frage stellen: In den Genossenschaften der verschiedenen Kraftwerke, der Kalkbreite und in „Mehr als wohnen“ auf dem Hunziker-Areal entstanden Wohnkonzepte, die im Grunde im Vermischen von Räumen bestehen. Das Dach des Tramdepots wird zum Pärklein, dein Yoga-Raum wird zu meinem Nähatelier wird zu unserem Wohnzimmer, je nach Bedarf. Und alle sind mit allen durch irgendwas verbunden – durch eine abwechslungsreiche Gestaltung mit System, durch eine Rue Interieure, durch den gemeinsamen Quartierplatz.
Wenn das mal nicht nach einem geheimen Exportschlager aus Griechenland klingt.
Fotos: Antonia Steger (Ausnahmen beschriftet)