| 9. August 2015

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Es riecht nach längst abgesaugtem Rauch, die Beleuchtung ist etwas stark gedimmt. Der Raum wird zu gleichen Teilen von 40 bis 70-jährigen Schweizern und beleibten, nur wenig jüngeren Afrikanerinnen gefüllt. Dennoch wirkt die Beiz leer, gesprochen wird wenig, die Blicke verlieren sich im Nichts. Drei Inder machen Musik, oder tun wenigstens so, und eine Osteuropäerin scheint dazu zu singen. Die Stange kostet 10 Stutz. Ich habe Ruedis Platz geklaut, doch das stört ihn nicht. Ruedi wirkt trotz etwas eingesackter Haltung gross, ein schlabbriges T-Shirt bedeckt seinen stolzen Bauch, eine alte Dächlikappe die dünnen Haare. Während die meisten dieser Männer auf der Strasse auffallen würden, bin ich es, der hier am Rande steht. Der Kreis Cheib ist Ruedis Heimat, hier ist er grossgeworden, hier hatte seine Familie Einfluss.

Heute wohnt der Ruedi unter dem Lärmdach des Zürcher Flughafens. Auch seine acht Geschwister haben das Quartier verlassen. Er deutet auf seine Schlitzaugen als Beweis aussereuropäischer Einflüsse, will aber nicht verraten, welche. Mit seinen 51 Jahren ist er schon lange arbeitsunfähig, er lebt von der Sozialhilfe. Keine Frau, keine Kinder. Er könne nie eine Frau finden, das hat er schon lange aufgegeben. Seine Stimme gehört der SVP. Warum genau, kann er mir nicht sagen. Ist so weil ist so.

Der Barmann will mir kein Bier mehr ausschenken, die letzte Runde sei vorbei, doch der Ruedi organisiert mir noch eins. Prost! Seine Abende verbringt er in der Sonne mit einem seiner Brüder und ein paar anderen schweigend auf seinem Barhocker. Ab und zu teilt er sich ein Zimmer mit einer Afrikanerin. Er hat hier seine Lieblingsprostituierte, sie kennt ihn inzwischen gut.

Eine spricht mich an der Bar an. Susannah heisst sie. Ist das dein echter Name? Anna. Christiana. Sie nennt noch ein paar weitere. Erst vor zwei Wochen sei sie aus Äthiopien hier angekommen. Do you feel lonely?, fragt sie. No need be und legt mir sanft ihre Hand auf den Arm. Ich ziehe ihn zurück, die Leuchtstoffröhren flackern an, es ist 3, Schluss für heute. Ich verspreche dem Ruedi noch, mich ein ander Mal für das Bier zu revangieren, doch dazu kommt es nicht mehr. Die Woche drauf findet sich an der Glastüre nur noch der Hinweis, dass man nun im Hotel Regina bedient werde.

 

 


Dazu ein Gedicht von
Bibish Marie-Louise Mumbu (geboren im Kongo, lebt in Montreal, Kanada)

 

Sie…

 

Ich entriss mich ihren Augen, endlich.
Sie hielt mich fest, quälte mich.
Ihr wisst vielleicht nicht wie sehr, aber sie ist lähmend.
Es ist schlichtweg beengend.
Ah, das Miststück!
Als ich ankam, merkwürdig, da habe ich mich in ihre Arme fallen lassen.
Ich frage mich noch heute, warum diese Wahl? Aber gut.
Ehrlich, ich habe mich zum ersten Mal erwischen lassen, so wie mir das noch nie passiert ist …
Ich wagte nicht zu sprechen. Ich konnte es weder sagen noch schreiben.
Ich war nicht einmal imstande zu streiten, wie es sich gehört. Mich aufzuregen, wie es sich gehört. Es brauchte Zeit, Monate, bis ich mich lösen konnte.
Von der Liebe vor allem …

Oh, es gibt nicht nur den andern, den Mann, der dich lieben kann, weisst du. Ich habe ganz einfach die Verantwortung für mich übernommen. Ich habe gerade begonnen, mich kennen zu lernen, ich habe wieder angefangen, mit mir zu sprechen, ich habe wieder angefangen mir mit Achtung zu begegnen, ich habe wieder angefangen, auf mich zu hören. Ich habe mich oft eingeladen ins Restaurant, ins Kino, ich habe mir Aktivitäten organisiert, habe mich fotografieren lassen, habe mir zugelächelt, mir Freude bereitet. Und ich habe mich davon gelöst …
Aber darin leben, welche Hölle!
„Das kann ich nicht“, war zu meinem Credo geworden.

Eine unglaubliche Scheinschwangerschaft. Wenn sie in der Nähe ist, bleibt deine Regel weg, du kotzt jeden dritten Morgen, du sprühst nicht mehr vor Leben, du zitterst bis in deine Stimme hinein, du hast weder Freude noch Appetit, du glaubst wie eine Verrückte zu rennen, aber nur in deinem Kopf, während du in Wirklichkeit an Ort trittst.

Kurzum, nichts geht mehr.

Du versuchst es mit dem Anschauen alter Fotos, um darin das Lächeln oder die Erinnerung an ein grossartiges Ereignis wiederzufinden, aber dann merkst du, dass du keine Papierfotos hast. Nur was in deinem Computer steckt …
Du musst ihn also einschalten, um einige davon wiederzufinden, nur dass dir diese kleine Bewegung schon alle Energie raubt. Ich kann es nicht! Du schaffst es nicht, es ist zu viel verlangt.

Und noch einmal: du erbrichst, deine Regel bleibt aus, du zitterst bis in deine Stimme hinein, sogar wenn du zu dir selber sprichst – darum sprichst du gar nicht mehr mit dir – du erträgst Nachbars Hund nicht mehr, sein Bellen macht dich verrückt und du hast nicht einmal mehr die Kraft, dich anzuziehen und dir einen starken Kaffee zu brauen oder dich selber allein zu motivieren.
Du denkst an das Lied eines Sängers von zu Hause, Koffi oder JB, aber du kannst dich nicht mehr an die Worte erinnern. Was sagten sie schon wieder zum Thema … Reiten oder Pferdepflege … punda … oder über die Steuerbeamten … supu?
Scheisse, ich weiss es nicht mehr. Und noch dazu keine CD im Haus. Ja, es gibt Youtube, aber da muss ich wieder diesen Scheisscomputer einschalten … das ist zu viel verlangt. Ich kann es nicht!
Es gibt Vormittage wie diesen, wo ich mich nicht daran erinnerte, dass ich existiere. Ich war gedächtnislos geworden, negativ, defätistisch.
Nein, sie ist wirklich keine gute Gesellschaft, sie ist wie eine Eiterbeule.
Sie verschlingt dich und treibt dich ins Nichtstun.
Das Gefühl, dass alles den Bach runter geht, kennst du das? Mit ihr geht effektiv alles den Bach runter.
Ich kann nichts dafür, dass ich zu der Sorte Leute gehöre, die stark auf Eindrücke reagieren. Aber ich bin so. Meine Gefühle überrennen zu oft die Vernunft. Das ist manchmal gut. Manchmal ist es nicht gut.
Tatsächlich beanspruche ich oft meine Fleisch- und Blutseite, meine Scheiss- und Pisse-Seite, meine Scheisshaus-Seite, weisst du, all das, was ausscheidbar ist, kann man das sagen? Ausscheidbar … Mit der Intelligenz ist es nicht das Gleiche, auf alle Fälle scheidet man sie anders aus und anderswo … doch zugleich, sagen wir es offen, macht man nicht immer intelligente Sachen auf diesem Erdenrund. Man beisst sich an etwas die Zähne aus, man strampelt sich ab, man steckt ein, und manchmal dann, denkt man nach und versteht das Leben besser und die Leute.
Einmal hab ich es geschafft aus dem Bett zu kommen, mich ins Bad zu schleppen, mich im Spiegel anzuschauen … mein Gott!
Ich hatte nun ihre Gesichtszüge.
Ich war schauerlich anzusehen, wie ein Uhu beim Erigieren. Kannst du dir das vorstellen, ein Uhu, der sich einen runterholt und dabei kommt? Nur eine Eule kann das toll finden. Nun, das ist fast schon normal, schliesslich ist sie es, die … OK, lassen wir das.
Wir waren bei „… in meinem Badezimmer“ …
Da habe ich den Spiegel meines Badezimmers zerschlagen, ich mochte das Bild nicht, das er mir von mir zurückschickte. Ich war doch wirklich nicht diese Person?

Und statt dass ich mich aufgerappelt hätte – dazu ist zu sagen, dass das Spiegelzerschlagen mich voll in die Aktion gestürzt hatte -, nun ja, da hab ich angefangen, mich wegen meinem Verhalten schuldig zu fühlen. Und wie wenn das nicht gereicht hätte, sind mir die sieben Jahre Unglück wegen dem zerbrochenen Spiegel innert sieben Sekunden auf den Kopf gefallen. Kotzereien, Zittern, Tränen, Ängste, einfach alles!
Es ist verrückt, wie sehr ich ihr glich. Wie ihr Sprössling, oder ihr Zwilling.
Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, wegzugehen und mich aus ihren Armen zu lösen.
Die Angst …

 

(geschrieben 2011 in Montreal, Kanada; Übersetzung aus Al Imfeld: Afrika im Gedicht)